Europas Gentechnikregulierung im Wandel: Was bedeuten eigentlich Wahlfreiheit, Transparenz und Vorsorgeprinzip?

„Nicht die Technologie, sondern ihre Chancen, Risiken und Folgen stehen im Zentrum“ – sagt unser Grundsatzprogramm. Seit zehn Jahren gibt es die neuen gentechnischen Verfahren und Europa sucht derzeit eine Haltung dazu, weil diese neuen Verfahren alte Grundsätze der Regulierung umfassend infrage stellen.

Wir können grundsätzlich infrage stellen, ob das Gentechnikrecht überhaupt angepasst werden muss. Dafür sprechen gewichtige Argumente: Dass die derzeitige Regulierung nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entspricht, dass sie zunehmend bei der Nachvollziehbarkeit, Verhältnismäßigkeit und Diskriminierungsfreiheit in Erklärungsnöte kommt und dass wir Chancen vertun, wenn wir neue technologische Wege nicht für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele nutzen.

Die wissenschaftliche Revolution stellt bisherige politische Antworten in Frage und erfordert neue Antworten. Wenn wir Zukunft gestalten wollen, dann jetzt.

Aufgrund eines folgenschweren EuGH-Urteils von 2018 steht inzwischen die Technologie im Zentrum der regulatorischen Bewertung (d.h. wie ein Organismus gezüchtet wurde) und nicht seine konkreten „Chancen, Risiken und Folgen“, wie es unser Grundsatzprogramm als Grundsatz formuliert: Für unsere Bewertung eines Organismus ist entscheidend, welche Eigenschaften er hat und nicht wie er hergestellt wurde. Andersherum werden Ackergifte ebenfalls nicht weniger harmlos, weil sie ökologisch hergestellt wurden.

Der gleiche Organismus wird heute unter Umständen unterschiedlich reguliert, auch wenn er genetisch identisch ist und dieselben Eigenschaften hat. Heute wird der Organismus danach beurteilt, ob er durch natürliche, künstliche oder gentechnische Mutation entstanden ist. Die Grenze zwischen Natur und Kultur ist in diesem Bereich eine Fiktion. Künstliche Verfahren verwenden natürliche Mechanismen, natürliche Mutationen sind sehr viel häufiger als noch vor einigen Jahren bekannt, gentechnische Verfahren lassen sich nicht mehr von natürlichen Prozessen analytisch abgrenzen. Gentechnik ist in Form von Strahlung und Chemie in ganz Europa seit circa 100 Jahren in der Züchtung zugelassen – auch in Gentechnik-freien Regionen und Biomärkten. Das gleiche Ergebnis erzielt durch den aus der Natur entlehnten CRISPR-Mechanismus ist verboten. Neue Pflanzen, die mithilfe der neuen Gentechnik gezüchtet wurden, werden bereits wissenschaftlich als “naturidentisch” bezeichnet. Das war bei der alten Gentechnik grundsätzlich anders, weil deren Organismen nicht auf natürliche Weise entstehen können.

Die Grenzen zwischen Ökolandbau und Organismen mit künstlich verändertem Genom sind aus wissenschaftlicher Sicht nicht mehr haltbar. Der EuGH hat 2018 festgestellt, dass die zur Züchtung verwendete klassische Mutagenese auch Gentechnik ist (aber aufgrund der derzeitigen Regeln nicht als solche reguliert und gekennzeichnet wird). Die mithilfe der künstlichen Mutagenese gentechnisch gezüchtete Grapefruit „Red Ruby“ ist zum Beispiel heute auch im Bioladen erhältlich, nahezu die gesamte europäische Gerste ist durch Gentechnik mithilfe von Strahlung gezüchtet worden. Schätzungen gehen von 3.000 Sorten aus, die aufgrund künstlicher Manipulation gezüchtet wurden und heute auf den Äckern Europas stehen und sich seit Jahrzehnten auskreuzen.

Die grünen Regierungsmitglieder haben zur Novellierung des Gentechnikrechts bereits gesagt, worauf es den Grünen ankommt: Wahlfreiheit, Transparenz und Vorsorgeprinzip. Diese allgemeinen Maßstäbe müssen nun von uns Grünen rasch ausbuchstabiert werden, wenn wir mitgestalten wollen. Auf dem Tisch liegt seit kurzem ein konkreter Regulierungsvorschlag der EU-Kommission. Wir brauchen konkrete Ideen und Konzepte.

Die Kennzeichnung von Produkten, die mithilfe neuer gentechnischer Verfahren hergestellt werden, ist von der EU-Kommission in dem Entwurf nicht vorgesehen. Da sich die Neuregulierung auf Pflanzen bezieht, die auch natürlich zustande kommen können, ist dieser Schritt auch richtig. Theoretisch könnten sonst die gleichen Pflanzen einmal gekennzeichnet und einmal ungekennzeichnet dem Verbraucher angeboten werden – ohne dass ein Unterschied nachgewiesen oder wissenschaftlich angenommen werden kann.

Wir müssen die Konzepte Wahlfreiheit und Koexistenz neu mit Leben füllen. Sie müssen angesichts der neuen wissenschaftlichen Entwicklungen am Ende sinnvoll, plausibel, und nachvollziehbar sein. Die Vorschläge der EU-Kommission regeln den Umgang mit Pflanzen neu, die auch auf natürliche Weise entstehen können. Dadurch ist Nachweisbarkeit, Zuordnung und Überprüfbarkeit nicht mehr – über das Saatgut hinaus – möglich. Die Vorschläge der Kommission, dass das Saatgut dennoch gekennzeichnet wird, ist der richtige Weg. Er gefährdet weder die wirtschaftliche Substanz von konventioneller noch von ökologischer Landwirtschaft. Wer gentechnikfrei oder konventionell oder mithilfe neuer gentechnischer Verfahren Landwirtschaft betreiben möchte, kann das jeweils tun. Sorten weiterhin ohne Koexistenzregeln zuzulassen, die mit unkontrollierter Radioaktivität gezüchtet wurden, aber mithilfe von CRISPR präzise gezüchtete Sorten – trotz identischer Risiken – einem gänzlich anderen Regulierungssystem zu unterstellen, passt nicht zusammen.

Es sollte bei der Koexistenz die neue Gentechnik nicht gegenüber der Gentechnik per klassischer Mutagenese benachteiligt werden.

Bei der Kennzeichnung sollten wir zunächst darüber diskutieren, welche Eigenschaften für die Umwelt sowie Verbraucher und Verbraucherinnen in einer ganzheitlichen Betrachtung relevant sind. Den Herstellungsprozess zu kennzeichnen, aber nicht zugleich die Produkteigenschaften (und den mit den Eigenschaften verbundenen ökologischen Impact) ist nicht im Interesse verantwortungsvoller Verbraucher und Verbraucherinnen, noch ist es im Interesse von Umwelt- und Naturschutz. Verbraucherinnen, Vebraucher und Anwenderinnen und Anwender sollen bei einer Kennzeichnung wissen, welche Folgen für Mensch und Umwelt entsprechende pflanzliche Produkte haben.

Wir müssen als Grüne die Patentfrage zusammen mit dem Sortenschutzrecht in den Blick nehmen. Da es bei der Neuregulierung zu den neuen gentechnischen Verfahren um Organismen geht, die auch auf natürliche Weise entstehen können, ist im Zuge der Neuregulierung auch die Anwendbarkeit des bisherigen Patent- und Sortenschutzrechts kritisch zu prüfen. Es ist von daher zu begrüßen, dass die EU-Kommission sich dem Thema zeitnah widmen wird. Wir sollten deshalb jetzt frühzeitig diskutieren, wie wir die unterschiedlichen Perspektiven der Bioethik sowie die innovations-, wirtschafts-, agrar- und entwicklungspolitischen Perspektiven als Grüne in neue Konzepte zusammenbringen können.

Es wäre jedoch falsch, die Anpassung des Gentechnikrechts mit den Patentfragen politisch zu vermischen, da diese sich letztendlich auf alle Formen der Mutagenese und nicht nur die neuen gentechnischen Methoden bezieht.

Das Vorsorgeprinzip ist für uns ein wichtiger Maßstab bei der Bewertung von neuen Produkten und Verfahren. Es fordert in der europäischen Definition von 2000 eine möglichst umfassende wissenschaftliche Bewertung und dabei auch eine Ermittlung des Ausmaßes der wissenschaftlichen Unsicherheit. Die nationale, europäische und internationale Wissenschaft ist eindeutig: Entscheidend für die Betrachtung der Risiken ist der Organismus und nicht sein Herstellungsprozess. CRISPR unterscheidet sich im Ergebnis nicht von natürlich und anderen künstlichen Prozessen.

Deshalb ist eine gesonderte Risikoprüfung aus Sicht der Wissenschaft nicht begründbar, erst recht kein nationaler Opt-Out aufgrund wissenschaftlichen unbegründeter Risikoannahmen bzw. theoretischer Restrisiken wie sie bei anderen Technologien nicht angenommen werden (Beispiel: Mobilfunk). Der Konsens bei der wissenschaftlichen Bewertung ist, wie bei der Klimaforschung derart groß, dass die Wissenschaftlichkeit anderer Stellungnahmen für die politische Bewertung mittlerweile vernachlässigt werden muss. Zudem fordert das Vorsorgeprinzip der EU die Verhältnismäßigkeit und Diskriminierungsfreiheit. Beides ist bei der derzeitigen Regulierung nicht mehr gegeben, weshalb die Kommission aktiv geworden ist.

Das europäische Vorsorgeprinzip gebietet auch, dass vor jeder Entscheidung für oder gegen eine Tätigkeit auch die Risiken und die möglichen Folgen einer Untätigkeit bewertet werden. Das Risiko der Untätigkeit ist für Europa groß: Wir verpassen die Chance einer nachhaltigeren (konventionellen) Landwirtschaft. Das hat lokale wie globale Folgen. Wir sollten aus Europa die Technologie mit europäischen Werten gestalten. Dafür müssen wir wettbewerbsfähig sein. Zahlreiche Regionen haben CRISPR bereits nahezu ohne Regulierung zugelassen. Wir sollten sie hingegen mit europäischen Werten regulieren und an Nachhaltigkeitsziele koppeln. Wir können uns von den globalen Warenströmen nicht abschotten. Wir sollten die Waren jedoch dahingehend durch europäische Innovationen gestalten, dass sie die Zukunft unseres Planeten weniger gefährden. Die derzeitige Landwirtschaft ist kein Risiko, sondern eine Gefahr für den Planeten.

Die Vorschläge der EU-Kommission stehen nicht im Widerspruch zu unseren Maßstäben, dass neben der Nachhaltigkeit für uns Wahlfreiheit, Transparenz und Vorsorgeprinzip zentrale Werte bei dem Umgang mit den Folgen von neuen Technologien sind.

Wir wollen die EU-Vorschläge konstruktiv begleiten und die Neuregulierung so gestalten und nutzen, dass aus den neuen gentechnischen Verfahren Chancen für Mensch und Umwelt werden.

Ohne technologische Sprünge werden wir in Europa und in der Welt die Nachhaltigkeitsziele nicht mehr in der verbleibenden Zeit erreichen.