Der Pflegenotstand und die aktualisierte Pflegepersonalregelung (PPR 2.0): Verbesserungsvorschläge eines Insiders

September 2022, von Kevin Roth, im Gespräch mit Ingo Eck, Fachkrankenpfleger für Intensiv- und Anästhesie-Pflege.

Die Intensivpflege leidet unter einer akuten Personalnot, die zusätzlich durch die SARS-CoV-2 Pandemie verschärft wurde und wird. Viele Kolleg*innen denken daran, dem Beruf den Rücken zu kehren, gehen in Teilzeit oder überlegen, die Branche zu wechseln [2]. Im Jahr 2019 stellte die damalige Bundesregierung die „Konzentrierte Aktion Pflege“ (KAP) vor [3]. Diese sollte dazu führen, die Arbeitsbedingungen der Pflegenden zu verbessern. Doch den großen Worten sind aus der Sicht vieler Pflegenden nur unzureichende Taten gefolgt.

Eine 2021 veröffentlichte Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) [4] ergab, dass in fast drei Vierteln der deutschen Krankenhäuser mit Intensivbetten aktuell weniger Intensivpflegekräfte zur Verfügung stehen als noch am Ende des letzten Jahres. Die genannten Hauptgründe: Kündigungen, interne Stellenwechsel oder Arbeitszeitreduktionen. Die Abwanderungen betreffen in gut einem Drittel der Kliniken bis zu 5 Prozent des Intensivpflegepersonals. In knapp 30 Prozent der Intensivbereiche sind zwischen 5 und 10 Prozent der Pflegekräfte betroffen [4]. Eine Lösung der Missstände ist nicht in Sicht. Die Abwanderung von Intensivpflegekräften ist eine wichtige Ursache dafür, dass in vielen Krankenhäusern die vorhandenen Intensivkapazitäten nicht ausgelastet werden können.

Seit Anfang des Jahres konnten 86 % der Häuser ihre Intensivbetten wegen Mangel an Pflegekräften nicht vollumfänglich betreiben. Gut die Hälfte der Befragten gibt an, dass dies oft oder sehr oft der Fall war [4]. Das Problem ist hinlänglich bekannt und beschrieben: Es gibt schlicht zu wenige Pflegekräfte, um den Personalbedarf in der Gesundheits- und Krankenpflege zu decken [5-8]. Studien zu diesem Thema geben zwar wichtige Empfehlungen, können für die komplexen Probleme aber natürlich keine Patentlösungen liefern. Dabei zeigen Untersuchungen deutlich: Eine bessere Personalausstattung bringt Entlastung für alle Pflegenden, führt zu einer höheren Qualität der pflegerischen Versorgung der Patient*innen und verbessert sowohl Patient*innensicherheit als auch Effektivität der medizinischen Behandlung [9].

Doch wie lässt sich der tatsächlich erforderliche Personalbedarf einer Klinik ermitteln?
Der Gedanke der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) zum Schutz der Patient*innen eine Mindestanzahl von Pflegenden pro Patient*in festzuschreiben (beispielsweise 1 Pflegekraft pro 2 Patient*innen auf Intensivstationen) war gut, jedoch zu kurz gedacht. Die Gefahr, dass diese Pflegekraft-Patienten-Relationen zur Norm wird, also de facto zu einer Personalobergrenze, ist sehr groß. Krankenhäuser die bereits jetzt mehr Pflegepersonal für pflegeintensive Bereiche vorhalten, wie etwa Universitätskliniken, könnten eine solche Vereinbarung zum Anlass nehmen, um qualifiziertes Pflegepersonal abzubauen und zu einer Reduktion des Pflegepersonals auf einigen Stationen führen, obwohl diese mehr Personal benötigen.

Die PpUGV kann in einer Einführungs- und Konvergenzphase zuerst einmal beibehalten werden, darf im Intensivbereich aber nur als rote Linie gesehen werden. Im somatischem Bereich der allgemeinen Gesundheits- und Krankenpflege, zumindest in jenen Bereichen in denen weniger Pflegeaufwand herrscht, sind die Untergrenzen zu hoch angesetzt und führen deswegen weder zu mehr Patient*innenschutz noch mindern sie die Überlastung der Pflegenden. Um das sowieso schon knappe Personal möglichst effizient einzusetzen, ist es zwingend notwendig, den Pflegebedarf der einzelnen Stationen zu ermitteln und daraus den tatsächlichen Personalbedarf zu errechnen.

Um eine Personalbedarfskalkulation oder eine gezielte Personalbedarfsanalyse zu generieren, müssen unterschiedliche Kennzahlen möglichst zeitnah berechnet werden können. Die Grunddaten (Pflegeleistung) der Personalkalkulation ergeben sich aus der Summe der Minuten (Patient*innen-nahe Leistung) pro Patient*in und erlauben es, Patient*innen in Pflegekategorien einzuteilen. Dabei müssen sowohl pflegerische (Patient*innen-nahe Leistungen) und Nebentätigkeiten (Patient*innen-ferne Leistungen) einbezogen und gewichtet werden.

Die Daten zur Berechnung dieser Zahlen können durchaus, wie bei der PPR 2.0 angedacht, retrograd ermittelt werden. Es ist jedoch, vorausgesetzt die Digitalisierung im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege wird weiter vorangetrieben, möglich, mit den Daten eine Risikojustierung in der Personalermittlung zu entwickeln. Diese könnte ein PDMS (Patientendatenmanagementsystem) mit einer schichtbezogenen Auswertung durchaus leisten, doch in der Regel liegt so eine Auswertung dementsprechend erst am nächsten Tag vor. Eine generelle Herausforderung in der Gesundheits- und Krankenpflege ist es jedoch, dass der pflegerische Aufwand für Patient*innen sehr schnell variieren kann. Je schneller die Daten vorliegen, desto genauer ist auch die Kalkulation im System.

Die zukünftige Berechnung des Personalbedarf sollte nicht nur auf Zeitfaktoren basieren, sondern muss organisatorische und strukturelle Rahmenbedingungen abbilden. Beispielsweise müssen personalintensive Zusatzleistungen (z.B. Isolation aufgrund von Keimen) in einem Bemessungssystem zu einer Erhöhung der Regelbesetzung führen. Das Personal auf Intensivstationen ist oftmals auch in anderen Bereichen der Kliniken gebunden, beispielsweise im Schock- oder Eingriffsraum oder in CPR (Cardiopulmonary resuscitation) Teams. Es ist unabdingbar, die Bindungsminuten des Pflegepersonals in der Personalberechnung und dadurch im Personalbedarf abzubilden.

Diese Bedarfsberechnung, die mit weiteren relevanten Faktoren (z.B. Ausfallzeit, Nettojahresarbeitszeit, Einarbeitung neuer Mitarbeiter*innen, Anleitung von Auszubildenden, etc.), gibt den tatsächlichen Bedarf an Personal an, analog zum reellen Bedarf an Pflegeleistung, und das individuell für jede Station. Einer Verteilung nach dem Prinzip der Gießkanne wird hier entgegengewirkt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Leistungsbereiche mit weniger Aufwand auch weniger Pflegestellen benötigen und die Bereiche mit hoch aufwendigen Patient*innen mehr Pflegestellen bekommen müssen. Einfach nur auf generelle Kennzahlen von Patient*innen zu schauen, z.B. Beatmung, ist unzureichend. So macht es einen großen Unterschied, ob beatmete Patient*innen stabil oder instabil sind, zusätzliche pflegerische Leistungen benötigen oder einfach nur überwacht werden müssen. Eine solche Unterscheidung ist in der PPR 2.0 bisher nicht vorgesehen.

Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) mit 1 : 2 als rote Linie kann zwar in der Intensivpflege beibehalten werden, muss aber zwingend durch ein leistungsorientiertes System ergänzt werden, um den tatsächlichen Pflegebedarf zu berechnen. Wird hier ein höherer Bedarf ermittelt, müssen die Untergrenzen überschritten werden, um die Patient*innensicherheit zu gewährleisten sowie eine Überlastung der Pflegenden zu verhindern.


Vorschläge zur Verbesserung der PPR 2.0:


Wie zuvor aufgeführt, ermöglicht eine verbindliche, plausible, überprüfbare und individuelle Personalbemessung für alle Bereiche der Patient*innenversorgung, insbesondere aber in der Intensiv- und Notfallmedizin, die Berechnung des individuellen Personalbedarfs einzelner Bereiche. Dadurch ist es möglich, das knappe Personal eines Hauses effektiv zu verteilen und durch ständige Analyse der generierten Pflegekennzahlen individuell anzupassen. Die Klinik wird sozusagen zu einem Organismus, dessen Ressourcen genau dort eingesetzt werden können, wo sie am dringendsten benötigt werden. Es bedarf weiterer Maßnahmen, wie beispielsweise eines funktionierenden Ausfallmanagements, das einzuhalten ist und somit der Entlastung des gesamten Personals im intensiv- und notfallmedizinischen Bereich sowie der Sicherheit der Patient*innen dient.

Für diese Ermittlung des Pflegepersonalbedarfes in der intensivmedizinischen Versorgung von Erwachsenen und Kindern sollte, wie von DKG (Deutsche Krankenhausgesellschaft), DPR (Deutscher Pflegerat) und ver.di vorgeschlagen, z.B. das Instrument INPULS® [10] eingeführt werden, obgleich die Erprobung und die Konvergenzphase eine längere Zeit in Anspruch nehmen kann als die der PPR 2.0. Weiter würden die Pflegenden mit der Einführung eines eigens (aus der Gesundheits- und Krankenpflege heraus) entwickelten Systems eine Wertschätzung erfahren. An Erhalt und Weiterentwicklung eines Bemessungssystems für den Bedarf an Pflegepersonal sollten die Pflegenden weiterhin mitwirken, um so die Akzeptanz zu behalten und auf neue Erkenntnisse in der Pflegeforschung zu reagieren.

Es ist wichtig, den Bedarf an Fachkräften zu kennen, zeitgleich müssen jedoch Strategien zur Personalgewinnung sowie Personalerhaltung implementiert werden, um die Personalsituation auch langfristig zu entspannen. Der Pflegeberuf muss an Attraktivität gewinnen – ansonsten sehen die Prognosen für die Pflegenden und die Versorgung der Patient*innen düster aus. Fragt man die Pflegenden selbst, was zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs führen könnte, werden folgende Forderungen genannt: besseren Arbeitsbedingungen, attraktive Gehälter, Weiterbildungsmöglichkeiten, Akademisierung sowie Verbesserung des öffentlichen Bildes der Gesundheits- und Krankenpflege (z.B. Darstellung in den Medien) und Respekt gegenüber der Profession [2].

Zur validen Personalplanung in der Intensivpflege ist eine Generierung und kontinuierliche Messung pflegerischer Outcome Parameter (z.B. Dekubitus, Qualitätsmanagement, Fehlermanagement, Sturz, Mobilisation, Atemtherapie, Delir, Infektionen) mit Unterstützung entsprechender Forschungsgelder entscheidend, um einen Rückschluss auf Personalbesetzung ziehen zu können. Mittelfristig könnte ein Institut für die Personalbemessung in der Gesundheits- und Krankenpflege eingerichtet werden und nicht nur wissenschaftlich untersuchen, wie sich Veränderungen im Pflegeberuf (z.B. Akademisierung) und neue pflegerischer Leistungen auf den Personalbedarf der Pflege auswirken, sondern auch die Anerkennung des Profession „Pflege“ fördern.

Wir benötigen eine ausreichend gute Besetzung in allen Bereichen der Gesundheits- und Krankenpflege und die gesellschaftliche und politische Bereitschaft, für die Menschen, die in Notsituationen von uns abhängig sind, zu sorgen, um die im in der Charta der Grundrechte der EU festgeschriebene Aufgaben erfüllen zu können:


Grundgesetz Artikel 35 – Gesundheitsschutz
Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.

  1. Prognos, A. G. „Pflegelandschaft 2030. Eine Studie der Prognos AG im Auftrag der vbw–Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.
  2. Roth, C., Wensing, M., Breckner, A. et al. (2022) Keeping nurses in nursing: a qualitative study of German nurses’ perceptions of push and pull factors to leave or stay in the profession. BMC Nurs, 21: 48. https://doi.org/10.1186/s12912-022-00822-4
  3. Girts, S. (2019). Gemeinsam für die Pflege. CNE Pflegemanagement, 6: 16-17.
  4. DKI Krankenhaus-Pool Umfrage Oktober 2021: Abwanderungen aus der Intensivpflege https://www.dki.de/sites/default/files/2021-12/2021_10%20Krankenhaus-Pool_Abwanderungen%20aus%20der%20Intensivpflege.pdf
  5. Littlejohn L, Campbell J, Collins-McNeil J. (2012) Comparative analysis of nursing shortage. Int J Nurs.: 21–6.
  6. Oulton JA. The global nursing shortage: an overview of issues and actions (2006) Policy Politics Nurs Pract. 34S–9S.
  7. Nursing and midwifery – Fact sheets: World Health Organization 2022. Available from: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/nursing-and-midwifery.
  8. WHO and partners call for urgent investment in nurses: World Health Organization 2020. Available from: https://www.who.int/westernpacific/news/item/07-04-2020-urgent-need-for-investment-in-nursing#:~:text=The%20WHO%20report%20State%20of,in%20nursing%20is%20made%20now.
  9. Aiken LH, Sloane DM, Bruyneel L, Van den Heede K, Sermeus W, ConsortiumRC. (2013) Nurses‘ reports of working conditions and hospital quality of care in 12 countries in Europe. Int J Nurs Stud. 143–53. https://doi.org/10.1016/j.ijnurstu.2012.11.009.
  10. https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/organisation/pflege/pflegedienst-am-ukhd/pflegedirektion/inpulsr

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