- Juni 2018, von Dr. Paula Louise Piechotta & Till Westermayer
Das Verhältnis zwischen Grünen und Wissenschaftlichkeit ist nicht immer widerspruchsfrei – obwohl wir uns jeher als aufgeklärte, wissenschaftlich orientierte Partei verstehen. Diese Widersprüche treten gerade auch im laufenden Programmprozess zu Tage, wo wir neben neuen Fragen auch alte Fragen neu stellen und über Antworten diskutieren. Dr. Paula Louise Piechotta und Till Westermayer haben aus wissenschaftspolitischer Perspektive ihre Überlegungen zu dieser Frage aufgeschrieben.
Auf den ersten Blick denkt man: Grüne und Wissenschaftlichkeit – wo ist das Problem? Grüne laufen mit beim March for Science, wir geben Pressemitteilungen zur Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit heraus und laden Wissenschaftler_innen zu unseren Bundesdelegiertenkonferenzen ein. Im Gespräch mit Wissenschaftler_innen merkt man aber sehr schnell, dass unser Verhältnis zu Forschung und Forscher_innen kein ganz unkompliziertes ist: Zwar haben viele Wissenschaftler_innen eine grundlegende Sympathie für einige Ansätze unserer Politik. Ökologische Fragen sind vielen wichtig, ebenso unser liberales und emanzipatorisches Gesellschaftsbild, unsere Vorstellung einer beteiligungsorientierten Politik. Bald taucht dann jedoch ein großes Aber auf – denn noch immer erscheinen wir als technikfeindlich: Grüne seien die, die in Talkshows die „Schulmedizin“ verteufeln und öffentlich gegen Impfungen agieren. Ein fundiertes Verständnis dafür, wie wichtig Wissenschaftsfreiheit ist, wie Wissenschaft funktioniert, eine fakten-basierte Politik – das wird uns Grünen oft nicht zugetraut. Als wissenschaftlich denkender Mensch bei Grün kann man nicht alle diese Punkte leicht entkräften. Die Zerrbilder von den „Technikfeinden“ aus den 1980er Jahren, die auch damals schon wenig passend waren, stimmen heute erst recht nicht mehr. Trotzdem ist der Bezug auf Fakten und Evidenzen – außerhalb des engen Feldes der Wissenschaftspolitik – in unserer Partei immer noch etwas, das nicht in jedem Themenfeld widerspruchsfrei gelebt wird.
Das manchmal dissonante Verhältnis zur Wissenschaft wird an vielen inhaltlichen Fragen sichtbar: Wenn es um Klimaschutz und Erderhitzung geht oder um Armutsforschung, dann sind wir als Grüne sehr nah dran an der wissenschaftlichen Community – wir laden Forscher_innen zu unseren Parteitagen ein, wir verweisen auf ihre Papiere in unseren Beschlüssen und wir schelten die politische Rechte für ihre auf „fake news“ basierende Ablehnung aller klimapolitischen Maßnahmen. Aber wir neigen zur Rosinenpickerei: Wir fordern als Grüne Wissenschaftlichkeit gerne in den Themenfeldern ein, in denen sie uns selbst zupass kommt – und in anderen nicht. Das ist ein Kritikpunkt sowohl unserer politischen Gegner_innen als auch der wissenschaftlichen Community.
Zu unserem schwierigen Verhältnis zur Wissenschaftlichkeit gehört, dass wir bestimmte Themenfelder als Partei regelrecht tabuisieren. Etwas spöttisch zugespitzt: alles mit Atomen oder Genen ist uns nicht ganz geheuer. Da endet das Plädoyer für Forschungsfreiheit sehr schnell. Wir kommen aber nicht an der Wissenschaft vorbei, wenn wir wirklich eine nachhaltigere Zukunft erreichen wollen: Auch für einen sicheren Ausstieg aus der Atomenergie und für die Bewältigung der Endlagerproblematik braucht es auf absehbare Zeit gut ausgebildete Expert_innen, das heißt: weiterhin Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Kerntechnik. Oder, um ein anderes Beispiel zu wählen: ITER, das große internationale Kernfusionsforschungsprojekt, lässt sich forschungspolitisch – mit Blick auf Kostensteigerungen und organisatorische Fragen – ebenso wie energiepolitisch durchaus kritisieren. Die Frage ist allerdings, warum in grünen Wahlprogrammen immer wieder ITER als pauschales Beispiel für Schwächen der europäischen Forschungspolitik herhalten muss – und wie sich das mit der Forderung nach freier Grundlagenwissenschaft verträgt. Auch der große Beschleuniger am CERN oder die bemannte Raumstation ISS sind teuer, trotzdem rufen wir als Grüne nicht nach einem Ausstieg.
Oder werfen wir einen Blick auf das jüngste Beispiel: die vom Bundesvorstand angestoßene Debatte zur Gentechnik in der Landwirtschaft im Kontext neuer ökologischer Herausforderungen und neuer gentechnischer Verfahren. Fast schon reflexhaft erklärten führende Agrarpolitiker_innen unserer Partei sofort, dass es unnötig und falsch sei, diese Debatte überhaupt zu führen. Während gentechnische Verfahren im Labor mehr oder weniger zähneknirschend inzwischen auch grüne Akzeptanz finden, erscheint allein der Versuch, einmal zu überprüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen neue Entwicklungen in der Agrogentechnik neue grüne Antworten erfordern, als Frevel. Was aber sind wir für eine Partei, wenn wir selbst die Debatte zu neuen gesellschaftlichen Entwicklungen schon nicht zulassen?
Jenseits dieser Tabus sind Grüne eine neugierige, an Wissenschaft interessierte Partei, die sich kontinuierlich weiterentwickelt. Längst sind die Warnung vor den Gesundheitsgefährdungen durch öffentliche WLANs oder die Unterstützung von Impfgegner_innen nicht mehr grüner Mainstream. Die von „alternativer Wissenschaft“ Überzeugten werden immer weniger, sie sind längst nicht mehr die dominante Stimme. Ein Beispiel: 2013 noch warnte die zuständige grüne Bundestagsabgeordnete von den „ungeklärten langfristigen Auswirkungen“ von Impfungen, aber bereits 2015 warben Mitglieder des grünen Bundesvorstands mit Sharepics gemeinsam für eine breite Akzeptanz des Impfschutzes.
Wir rufen dazu auf, diese Entwicklung weiter zu führen, hin zu einem aufgeklärteren grünen Verhältnis zur Wissenschaft: Denn eine Partei, die sich in ihrer Programmatik nicht selbst widersprechen möchte, sollte in allen Themenfeldern ein enges und kritisches Verhältnis zur Wissenschaft haben. Sie sollte ihre eigenen Positionierungen auf ein belastbares Fundament wissenschaftlicher Fakten stellen können, auch um glaubwürdig den rechten Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit entgegentreten zu können. Wenn wir das schaffen, dann tragen wir auch dazu bei, unsere internen Debatten zu versachlichen.
Wir sind überzeugt davon, dass dieser Weg unabdingbar ist. Denn wir sehen einer Zukunft entgegen, die sich in vielen Bereichen sehr schnell und radikal ändern wird: Die künftigen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen zwischen technologie-assistierter Fortpflanzung und Bioethik, automatisiertem Fahren, künstlicher Intelligenz und digitaler Selbstbestimmung werden uns als Partei viel abverlangen. Wir können diesen Fragen aber besser und schneller begegnen, wenn wir das auf der Grundlage eines belastbaren Verhältnisses zur Wissenschaft tun.
Für unser grünes Verständnis von Wissenschaft hieße das, eine konsistente Orientierung am wissenschaftlichen Stand des Wissens, an Fakten und Evidenzen vorzunehmen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer einen Zwischenstand darstellt, der kontinuierlich überprüft und erweitert wird. Insofern ist einer Orientierung an Wissenschaftlichkeit die Kritik inhärent. Wir wollen nicht jedem wissenschaftlichen Trend nachrennen, und es heißt auch nicht, eins zu eins jede Verlautbarung aus „der Wissenschaft“ unkritisch zu übernehmen.
Wir glauben, dass ein konsistenteres Verhältnis der Grünen zur Wissenschaft die Partei stärker machen kann. Eine solche Grundhaltung kann und darf jedoch nicht von oben übergestülpt werden: Nachhaltig wird dieser Prozess nur, wenn wir durch mehr Debatte und mehr kritische Fragen unser eigenes Verhältnis zur Wissenschaft aufrollen, unsere eigenen Widersprüche aufdecken und Wege finden, diese zu heilen – hin zu einer noch aufgeklärteren und inhaltlich stärkeren Partei.
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