Chancen der Fusionsforschung erkennen

Juni 2022, von Hannes Damm und Marcel Ernst

Wir Grüne bekennen und als Partei eindeutig zur Einhaltung der Pariser Klimaziele und wollen zum Schutz heutiger und zukünftiger Generationen die Erderwärmung um 1.5 °C begrenzen. Im zentralen Handlungsfeld der Energieversorgung setzen wir uns daher für eine schnellstmögliche Transformation hin zu 100 % Erneuerbare Energien ein, die auch wegen grüner Energiepolitik mittlerweile wettbewerbsfähig sind.

Es ist unstrittig, dass die Erforschung der Kernfusionstechnologie zu langsam vorankommt, um eine Rolle zum Erreichen der Pariser Klimaziele bis 2050 zu spielen. Fusionskraftwerke werden bis dahin mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zur Verfügung stehen. Wir sollten als Grüne aber auch die Chance auf eine CO2-freie Stromerzeugung mittels Kernfusion für die Zeit nach 2050 nicht zu verschenken, da zwei wichtige Aspekte aus unserer Sicht in der Diskussion zu wenig Berücksichtigung finden:

Zum einen besteht das realistische Risiko, dass die Pariser Klimaziele bis 2050 nicht erreicht werden. Momentan spricht vieles dafür, dass die Menschheit zu Mitte des Jahrhunderts „überrascht“ feststellt, dass wir unsere Ziele verfehlt haben, weil deren Umsetzung zum Beispiel an Hemmnissen der Akzeptanz (etwa in der Bevölkerung oder Wirtschaft) oder der Technologie (Rohstoffknappheit, Netzstabilität oder Schwerindustrie) gescheitert ist. Es wären jedoch weitere 30 Jahre zur Erforschung alternativer Lösungswege verloren, wenn heute aus Kostengründen auf ergebnisoffene Forschung verzichtet würde. Der Verzicht auf Forschung hat noch nie bei der Lösung eines Problems zum Erfolg beigetragen. Es gehört allerdings zum Wesen der Forschung, dass sie in Sackgassen läuft, Rückschläge erleidet und die allermeisten Versuche nicht das gewünschte Ergebnis liefern.

Zum anderen müssen wir uns auch Gedanken machen, wie es nach 2050 mit unserem Energiesystem weiter gehen soll. Aktuellen Prognosen zufolge, wird sich die Urbanisierung rasant fortsetzen. Die Technologisierung der Menschheit und damit ihr Energiebedarf wird weiter zunehmen. Die Anpassung der Lebensverhältnisse an unsere Standards in den Schwellen- und Entwicklungsländern droht die dringend benötigte Effizienzsteigerung zunichtezumachen. Wir werden voraussichtlich nach 2050 immer mehr Energie benötigen. Heute gibt es keine CO2-freie Technologie, außer den erneuerbaren Energien, die zur Deckung dieses enormen zusätzlichen Energiebedarfs eingesetzt werden könnte. Der massive zusätzliche Flächenbedarf und die notwendigen Investitionen in die Energie-Infrastruktur führen jedoch wieder zurück zum bereits angeführten Problem der Akzeptanz, sowie einer verschärften Konkurrenz mit dem Naturschutz. Dass der Flächenbedarf im Falle der Mega-Städte weit außerhalb der Stadtgrenzen gedeckt werden muss, verschärft die gesellschaftliche Komponente des Problems noch weiter.

Folglich sind neben Forschungsinvestitionen in den Bereichen Speicher, Power-to-X, Sektorenkopplung und auch alternative emissionsfreie Energiekonzepte wie Fusion heute zwingend notwendig. Die gennannten Forschungsbereiche sind aus unserer Sicht auch gleichberechtig zu behandeln, da bisher keiner dieser Bereiche die alleinige oder vollständige Lösung des Problems aufgezeigt hat. Die ablehnende Haltung allein gegenüber der Fusion ist aus unserer Sicht nicht zu rechtfertigen, vielmehr sprechen wir uns für eine stabile Forschungsfinanzierung auf nationaler und internationaler Ebene aus. Wir sprechen uns dafür aus, die Fusionsforschung nicht auf der Zielgeraden mit ITER zu stoppen, denn ITER wird noch vor 2050 die grundsätzliche Frage klären, ob sich mit den bisher entwickelten Technologien Strom mittels Fusion erzeugen lässt.

Zu erwähnen ist zudem, dass die Fusionsforschung auch Grundlagenforschung am vierten Aggregatzustand dem „Plasma“ ist. Durch diese Forschung konnten sich in den letzten Jahren mehrfach Technologien entwickeln, die der Energiewende direkt zugutekommen können. Durch die Arbeiten des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik im Bereich „Plasma for Gas“ wurde gezeigt, dass sich Plasmen als Technologie für Power-to-X-Anwendungen mit einem hohen Wirkungsgrad eignen. Auch die Entwicklung von Supraleitern zur verlustfreien Stromübertragung wurde wesentlich durch die Anforderungen des für die Fusion notwendigen Magnetkäfigs beschleunigt.

Kaum ein Forschungsfeld wird von uns Grünen so kritisch beobachtet wie die Fusionsforschung, zumindest keines, das sich mit einem unserer ureigensten Ziele befasst, einer CO2-freien Energieerzeugung.

Oft wird eingewandt, dass die Fusionsforschung in Deutschland und im internationalen Grundlagenforschungsprojekt ITER nicht schnell genug vorankommt, ja auch scheitern kann. Dabei gehört es zum Wesen jeder Forschung, dass Rückschläge und Fehleinschätzungen das Projekt verzögern können. Es lässt sich für keine unerforschte Technologie mit Sicherheit sagen ob, wann und zu welchem Preis sie zur Verfügung stehen wird. Forschung wird aufgrund des grundsätzlich möglichen Potentials betrieben und die Potentiale der Fusion sind enorm.

Berechtigte Kritik kann an der Verzögerung und der Kostenentwicklung des ITER-Projekts geübt werden. Diese sind jedoch auf das Wissenschaftsmanagement und die nationalen Interessen einzelner Länder zurückzuführen. Die Komplexität und die Probleme eines internationalen Forschungsprojektes dieser Größe wurden offensichtlich unterschätzt. Der Bau eines Fusionsexperiments welches wie ITER den „Break Even“ (Energiebedarf zum Aufrechterhalten des Plasmas < Energiegewinn durch Fusion) erreichen kann, scheint jedoch leider aufgrund der Größe und den damit einhergehenden enormen Forschungskosten auf nationaler Ebene bisher nicht umsetzbar. Dies ist aus unserer Sicht auf die globale politische Lage und die viel zu geringen Kosten für die Nutzung fossiler Energieträger zurückzuführen. Dafür ist ITER in Zeiten von verstärkten Nationalismen und Abschottungspolitiken ein Erfolg für internationale Zusammenarbeit durch gemeinsam betriebene Forschung. Die Fusions- bzw. Plasmaforschung an deutschen Standorten indes liefert regelmäßig wissenschaftlich hochwertige Ergebnisse, wie zuletzt im Oktober 2019 bei der strategischen Begutachtung der wissenschaftlichen Leistung der Helmholtz-Forschungsgemeinschaft gezeigt werden konnte. Dabei erhielt die Fusionsforschung drei der fünf vergebenen Bestnoten des Helmholtz-Forschungsbereiches.

Die grundsätzlichen Vorbehalte gegen Kernfusion, die sich bisher in der Partei aufgrund der vermeintlichen Ähnlichkeit zur Kernspaltung halten, wurden von der Wissenschaft widerlegt. So gibt es, durch die Physik selbst bedingt, nicht die Gefahr einer selbstverstärkenden Kettenreaktion (ähnlich der Kernschmelze), ebenso ist der Austritt von massenhaft schwerradioaktivem Material durch einen Unfall oder Terroranschlag o.ä. unmöglich. Es werden einzig einige hundert Gramm des leicht radioaktiven Tritiums für den Betrieb verwendet, welches eine Halbwertszeit von nur 12 Jahren aufweist. Endlagerung auf Zeitskalen jenseits des menschlich Vorstellbaren entfallen damit. Auch der durch den Fusionsprozess mit Neutronen beschossene Stahl der Maschine lässt sich recyclen, denn bereits heute sind Stahlsorten speziell für diesen Einsatzzweck entwickelt, die nach 100 Jahren abgeklungen sind.

In einer utopischen Zukunft lassen sich möglicherweise die in der Bevölkerung bisher immer noch relativ unbeliebten Windräder in der Nachbarschaft von Wohnsiedlungen zurückbauen, wenn erst eine alternative CO2-freie Möglichkeit zur Energiegewinnung zur Verfügung steht. Möglicherweise ist es die Fusion, möglicherweise eine ganz andere Technologie. Herausfinden lässt sich das nur durch eine fair finanzierte Forschung. So weit in die Zukunft wollen wir mit unserem Begehren allerdings gar nicht spekulieren. Wir möchten nur erreichen, dass wir Grüne einer grundsätzlich umweltfreundlichen Energiequelle die Chance geben, bei der Dekarbonisierung der Welt eine Hilfe sein zu können und sie nicht aufgrund inhaltlicher Irrtümer zu Unrecht und kurzsichtig ausschließen.